ONLINE-DEMOKRATIE MIT HINDERNISSEN

von Sebastian Bähr

 

Vor dem Sonntags-Tatort noch ein Blick auf die Online-Abstimmung der Woche. Zahlreiche Vorschläge sind für das dringend benötigte neue Mietengesetz von Einzelpersonen und Gruppen eingegangen. Der seit Jahren geführte Diskussionsverlauf ist leicht verständlich zusammengefasst. Es dauert nicht lange, bis die Favoriten feststehen. Die Unterstützer des „Stadt für alle“-Konzeptes starten sogleich eine Online-Kampagne, um für ihren weiter gekommenen Vorschlag zu werben. Die „Volksinitiative Aufwertung“, Unterstützerin eines gegnerischen Konzeptes, wird dagegen als Lobbygruppe der Immobilienbranche entlarvt. Pressesprecher und Großspender wurden in einer Online-Datendank für politische und wirtschaftliche Transparenz aufgespürt. Einige Wochen später können alle Bürger vor Verabschiedung des neuen „Gesetzes für humane Mieten“ noch digital Änderungsanträge einbringen.

Von Anfang bis Ende eine Gesetzgebung unter Kontrolle und Mitbestimmung der Bürger – Dank des Internets keine bloße Utopie mehr. Zahlreiche Hindernisse sorgen jedoch dafür, dass das Potenzial
 des „Web 2.0″ für demokratische Willensbildung und Politikgestaltung nach wie vor nicht ausreichend genutzt wird. Die Frage woran dies liegt, welche Potenziale es gibt und wohin die Reise gehen kann, stand am Freitag im Fokus der LiMA an der HU Berlin.

Am Morgen sprach Juan Roch vom Berliner Ableger der spanischen Partei Podemos über die Erfahrungen mit einer von der Partei entwickelten Onlineplattform. In der „Plaza Podemos“ werden von tausenden spanischen Bürgern Diskussionen geführt, Repräsentanten befragt, aber auch eigene Vorschläge für Parteistrukturen und Wahlprogramme eingebracht. Über die Vorschläge wird mit einem ausgeklügelten Punktesystem abgestimmt. Problematisch sind hierbei nach Ansicht von Roch die Komplexität und die schiere Anzahl der eingebrachten Vorschläge, aber auch die schwierige Gewichtung zwischen den Vorschlägen von Einzelpersonen und Gruppen.
Selbstkritisch räumte er zudem ein, dass letztlich die Parteiführung ihre Favoriten aus den Vorschlägen der Basis auswählt und damit die tatsächliche Mitbestimmung durch die Online-Plattform begrenzt ist.
 Zusätzlich ergibt sich wie stets im Online-Aktivismus das Problem, dass hauptsächlich junge, gebildete und mit dem Internet aufgewachsene Menschen mit relativ viel Zeit den Hauptteil der Aktiven
 stellen. Viele der Nutzer würden dabei nach einer bestimmten Zeit das Interesse an der Plattform wieder verlieren und sich zurückziehen.
Für Podemos, so Roch in seinem Ergebnis, ist die Online-Plattform im Moment eher ein Instrument, um Bürgern erste Erfahrungen von Selbstermächtigung zu ermöglichen. Ihr volles Potenzial könne sie nur mit wachsender Vernetzung und Politisierung der Bürger ausschöpfen. Das Fernsehen sei nach wie vor das entscheidende Medium, um die Mehrheit der Menschen zu erreichen. Die Kombination mit der 
Nutzung digitaler Netzwerke sei aber wichtig, um den Kampf um die Deutungshoheit zu gewinnen.

Erfahrungen mit digitaler Mitbestimmung hat auch die sich mit dieser Thematik schon länger beschäftigende Piratenpartei.

Martin Delius, Vorsitzender der Berliner Fraktion im Abgeordnetenhaus, stellte auf der LiMA die Anwendung „LiquidFeedback“ vor, die von den Piraten zur Meinungs- und Willensbildung benutzt wird. Auch hier können Nutzer diskutieren und Textvorschläge einbringen, über die anschießend abgestimmt werden kann. Zudem kann die eigene Stimme weiter-delegiert, jederzeit aber auch wieder entzogen werden.

Die Nutzung der Anwendung ist nicht frei von Problemen und auch bei einigen Piratenverbänden umstritten. Das größte Problem sei die fehlende Möglichkeit der geheimen Stimmenabgabe, so Delius. Jede Aussage, Wahl und Delegation soll im Sinne der Transparenz einer Person zugeordnet und nachgewiesen werden können. Diese Perspektive steht damit im Widerspruch zum klassischen Demokratieverständnis mit seinem Recht auf Geheimhaltung der eigenen Meinung sowie zur Gefahr 
von fehlender Datensicherheit und Überwachung. Delius kritisierte weiter eine schwindende Beteiligung der Mitglieder an der Plattform, aber auch einen Mangel an der Verbindlichkeit von Beschlüssen. „Formalitäten und rechtliche Bedenken“ würden die weitere Entwicklung der Anwendungen „ausbremsen“, zudem würde es kaum eine Einbindung der Nutzer in die Parteiarbeit geben, so der Berliner Piratenchef. Es brauche nun wie in anderen Ländern „gesetzliche Grundlagen“ und „rechtliche Sicherheit“, forderte er.

Am Abend wurden die verschiedenen Perspektiven auf einer Podiumsdiskussion mit dem Titel „Demokratie online – Das Netz besser für demokratische Kontrolle und Mitbestimmung nutzbar machen!“ ausführlich diskutiert. Die drei Gäste waren der Medienwissenschaftler Professor Martin Emmer, Christina Deckwirth von der Organisation „LobbyControl“ sowie Katharina Nocun,
Mitarbeiterin der Organisation Campact.

Professor Emmer erklärte anfangs, dass laut seiner Studie von 2009 in Deutschland lediglich 16 Prozent der Bevölkerung Online-Aktivismus betreiben würden. Diese „Digital Citizens“ würden dabei andere Formen der politischen Mitbestimmung, die „außer-Haus-gehen“ erfordern, vernachlässigen. Katharina Nocun widersprach und erinnerte daran, dass erst 2011 tausende junge Menschen und Internet-Aktivisten die Straßen verschiedener Länder mit ihren Demonstrationen erstürmten.
Für Nocun komme es vor allem darauf an, durch niedrigschwellige Angebote die politischen Mitbestimmungsmöglichkeiten zu erweitern und neue Menschen einzubinden. Parteien könnten hierbei viel von Nichtregierungsorganisationen lernen, sie bräuchten nur „mehr Mut, neue Dinge auszuprobieren“, so Nocun. Das Internet verändere die Denkweise sowie die Erwartungshaltungen der jungen Menschen. Diese müssen die gewünschten Veränderungen nun „mit Nachdruck
 einfordern“.
Christina Deckwirth von „LobbyControl“ wählte eine andere Form des digitalen Aktivismus. Sie stellte eine Online-Datenbank vor, die transparent über Versuche von Lobbyverbänden informiert, die öffentliche Meinung oder das politische System zu manipulieren. Für Deckwirth gebe es einen
„Angriff der Lobbyisten auf Politik und Medien“ sowie deren Versuch, sich „eigene Communities“ aufzubauen. Das Internet sei für sie nicht automatisch emanzipatorisch – nur Transparenz könne gegen
 Manipulation und Verzerrung von Debatten schützen.
Zur derzeitigen Bedeutung der Online-Medien erklärte Professor Emmer, dass aufgrund des relativ freien und transparenten Systems in Deutschland der Druck noch nicht so hoch sei, auf Online-Medien
 auszuweichen. Der Druck werde laut ihm jedoch zunehmen. Es wäre bereits abzusehen, dass „die Bürger mehr mitbestimmen wollen“.

Die Moderatorin Halina Wawzyniak (MdB DIE LINKE) erinnerte zum Abschluss der Podiumsdiskussion daran, dass eine sinnvolle Nutzung des Internets den Zugang zu Informationen voraussetzt. Durch die sozialen Netzwerke würden jedoch immer mehr Menschen in eigenen „Blasen“ stecken bleiben und bestimmte Informationen nicht mehr wahrnehmen.
Wawzyniak schloss das Podium mit ihrem „großen Traum“, dass im Bundestag eines Tages ein Gesetz debattiert wird und bis zur Verabschiedung jeder Bürger online Änderungsanträge stellen kann. Vielen Online-Aktivisten wäre dies vermutlich zu wenig. Diese arbeiten aber sowieso längst an eigenen Projekten und warten nicht mehr darauf, dass Politiker aus ihrem Schlaf erwachen.

 

Sebastian Bähr ist derzeit Volontär beim Neuen Deutschland.